Projekt des Monats Januar 2014
Jahresprojekt der Frauenarbeit im GAW 2014 —
Sozialdiakonisches Engagement für benachteiligte Kinder in Mittelosteuropa
„Du bist nicht verlassen“
Die Einwohnerzahl Litauens hat sich in den vergangenen Jahren spürbar verringert. Dieser Bevölkerungsrückgang ist jedoch nicht durch eine niedrige Geburtenrate oder eine hohe Sterblichkeit verursacht, sondern durch Arbeitsmigration.
Der fast 80-jährige Pfarrer Ludvikas Fetingis aus Plikiai/Pliken hat durchaus Verständnis für die Menschen, die dem Dorf den Rücken kehren: „Hier gibt es keine Arbeit oder sie ist so schlecht bezahlt, dass man seine Familie nicht ernähren kann.“ Zu seiner Gemeinde in Plikiai gehören ca. 100 Gemeindemitglieder. Vor vier Jahren waren es noch 160-180. Nicht alle Arbeitsmigranten nehmen ihre Familie mit. Ludvikas Fetingis hat beobachtet, dass dies vor allem von ihrer Bildung abhängt: „Die ärmeren, einfachen Arbeiter und Arbeiterinnen lassen eher ihre Kinder zurück, die dann zu den Großeltern gehen.“
Die Problematik der Arbeitsmigration ist sehr vielschichtig. Es bleibt das Gefühl, dass im Land keiner so recht weiß, wie mit den vielschichtigen sozialen Problemen und Herausforderungen, die daraus entstehen, umzugehen ist. Oft bleibt ein Elternteil mit Kindern zurück, manchmal sind es auch nur die Kinder allein. Wenn es gut geht, können sie bei ihren Großeltern leben. Wenn es nicht gut geht, werden sie Bekannten oder sich selbst überlassen. Vor kurzem hat der Staat bei einer Erhebung einen sehr hohen Anteil an Schulschwänzern festgestellt. Wahrscheinlich auch eine Folge der Bevölkerungsentwicklung. Aber darüber, wie viele Kinder zu den sogenannten „Eurowaisen“ gehören, gibt es keine offiziellen Zahlen. In den Augen des Diakoniepfarrers Mindaugas Kairys ist es kein Zufall: „Der Staat hat kein Interesse daran, denn dann müsste er beginnen, auf verschiedenen Ebenen zu handeln. Das würde Kosten verursachen und ein anderes Bild der Gesellschaft vermitteln als man es möchte.“ Die Diakonie der lutherischen Kirche hat hier einen klaren Auftrag. „Wir müssen die Sorgen und Nöte der Kinder, Eltern und Großeltern zunächst einmal wahrnehmen. Wir können nur kleine Zeichen setzen, denn wir sind eine Diasporakirche“, sagt Kairys. „Aber wir wollen das Thema im Land bewusst zur Sprache bringen und auch konkrete Hilfen anbieten!"
Einige Projekte der litauischen Diakonie „Sandora“ haben sich des Problems der vernachlässigten Kinder schon angenommen.
Erna Vaišvilienė leitet seit 1999 zusammen mit ihrem Mann eine Suppenküche für verlassene Kinder im lutherischen Gemeindehaus in Pagėgiai. Im Jahr 2000 hatte Pagėgiai noch 3 600 Einwohner. Heute sind es noch ca. 2 000. „Man schätzt, dass 30 bis 40 Prozent der Kinder hier Eurowaisen sind“, sagt Erna Vaišvilienė. Genaue Zahlen gibt es nicht. „Es kommen zwischen 15 und 20 Kinder zu uns, die aus den ärmsten Verhältnissen stammen. Kinder, die wissen, was Hunger ist. Die Hälfte sind Kinder von Eltern, die im Ausland arbeiten.“ Erna Vaišvilienė bedauert, dass sie nicht noch mehr Kinder aufnehmen können: „Wir bekommen ein paar Spenden, von einigen Bauern auch Lebensmittel. Aber das reicht nicht aus.“ Und die warme Suppe allein ist auch nicht genug. „Wir merken, dass wir uns mehr Zeit für die Kinder nehmen müssen. Einige brauchen besondere Betreuung“, erläutert Erna Vaišvilienė die aktuellen Pläne. „Wir möchten eine Beziehung zu den Kindern aufbauen. Und wir möchten ihnen bei den Hausaufgaben helfen.“
Für Pfarrer Mindaugas Kairys und die Diakonie der lutherischen Kirche soll die erweiterte Betreuung in Pagėgiai eine Art Pilotprojekt werden: „Wir möchten Sozialarbeiter anstellen, die sich Zeit nehmen und die Kinder entsprechend ihren Bedürfnissen betreuen können. Diese Kinder brauchen mehr als eine warme Mahlzeit. Sie brauchen Halt und Beziehungen. Nur mit Gemeindediakonie können wir das nicht erreichen. Das überfordert die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Hier ist Professionalität dringend geboten.“
Nicht immer sind es „Eurowaisen“, die Hilfe brauchen. Es gibt zudem noch viele Familien, in denen die Eltern mit sich selbst und ihren eigenen Problemen so sehr beschäftigt sind, dass für die Kinder kaum noch Aufmerksamkeit übrig bleibt. Der 11-jährige Justas lebt mit seinen Eltern in der Nähe von Skirsnemunė. Im September 2013 kam er zum ersten Mal ins Mutter-Kind-Haus der Gemeinde. Dort betreut Evelina Tamošaitytė täglich von 13-18 Uhr 26 Kinder. Sie kocht warmes Essen, hilft bei Hausaufgaben und gestaltet die Freizeit. Justas ist froh, mit anderen Kindern zusammen und bei Evelina zu sein. Evelina Tamošaitytė begleitete ihn nach Hause, weil sie von seinen Eltern eine verbindliche Anmeldung und Unterschriften brauchte. Immerhin gibt es zurzeit eine kleine Unterstützung von der Stadt für die Kinderbetreuung.
Die Familie lebt in einer alten und baufälligen Hütte. Justas muss sich mit seiner 18-jährigen schwerbehinderten Schwester ein Zimmer und ein Bett teilen. Die Eltern haben in ihrem Zimmer ihr dreijähriges Enkelkind aufgenommen. Alles ist klein, eng und nicht gerade sauber. Justas strahlte, als seine Mutter ihn tatsächlich für die Betreuung anmeldete.
Häuser, wie das von Justas Eltern, kennt Evelina Tamošaitytė zu genüge: „So leben sehr viele Kinder.“ Sie macht diese Arbeit seit drei Jahren. 2011 hatte Mindaugas Kairys begonnen, mit viel Mut und Gottvertrauen ein altes, halb verfallenes Haus in Skirsnemunė in ein diakonisches Zentrum umzubauen. Er erinnert sich noch gut an die zweifelnden Stimmen aus der Gemeinde: „Die Gemeinde hat anfangs mit dem Kopf geschüttelt und gemeint, dass man so etwas nicht brauche. Außerdem seien die Kinder nicht lutherisch.“ Doch die Stimmung hat sich gebessert. Denn inzwischen kommen zu den Gottesdiensten in Skirsnemunė 60 bis 70 Menschen – etliche auch aus dem Projekt.
Kairys ist froh und dankbar dafür, dass die GAW-Frauenarbeit das Thema vernachlässigten Kinder in Litauen und anderen mittelosteuropäischen Ländern für sich entdeckt hat und mit ihrem Jahresprojekt 2014 u.a. die Diakoniestationen in Pagėgiai und Skirsnemunė unterstützt. Er hofft, dass diese Unterstützung auch seine Landsleute wachrüttelt.